Geschichte

Die Anfänge

Die Künstler:innenbefragung als wissenschaftliche Methode geht aus zahlreichen Initiativen, Projekten und Netzwerken hervor und entwickelte sich seit den 1980er Jahren stetig weiter. Als Erich Gantzert-Castrillo vor mehr als 40 Jahren das Archiv für Techniken und Arbeitsmaterialien zeitgenössischer Künstler gründete, war er einer der Ersten, die eine systematische Befragung der Kunstschaffenden im Fachbereich der Konservierung und Restaurierung etablierten.

Bereits in seiner Zeit als Restaurator am Museum Wiesbaden erkannte er den hohen Stellenwert der Kommunikation mit den Kunstschaffenden bei der Dokumentation und Konservierung von zeitgenössischen Kunstwerken: 

“Durch die Veränderung des Kunstbegriffs in der Kunst des 20. Jahrhunderts und der einhergehenden industriellen Entwicklung von neuen Techniken und Materialien sowie der einsetzenden großen Experimentierfreudigkeit der Künstler entstanden für die Konservierung und Restaurierung zeitgenössischer Kunst ganz neue Probleme, die einer veränderten Vorgehensweise bedurften. Diese Erfahrung machte ich in den siebziger Jahren als Restaurator am Museum Wiesbaden. Neue Materialien – Kunststoffe oder Naturmaterialien zum Beispiel – und neue Techniken erforderten ungewohnte Bearbeitungswege. Ebenso benötigten neuartige Künstlerkonzepte, zum Beispiel Rauminstallationen mit elektronischem Equipment, eine andere Pflege und Betreuung.
Aufgrund dieser Erfahrung gründete ich 1972 das »Archiv für Techniken und Arbeitsmaterialien zeitgenössischer Künstler«, mit dem eine Grundlage geschaffen werden sollte, um bei später aufkommenden Fragen, die gesammelten Fakten heranziehen und dem einzelnen Objekt hinsichtlich Erhaltung und Restaurierung gerecht werden zu können. In Vorgesprächen stieß ich bei Künstlern auf großes Interesse, und es bestand die Bereitschaft, mir die gewünschten Informationen zu geben. [1]  

In den 70er-Jahren führte Gantzert-Castrillo eine großflächig angelegte Befragung durch und schickte 320 Fragebögen an Künstler:innen im deutschsprachigen Raum. [2] Er entwickelte hierfür vier verschiedene Fragebögen mit den Schwerpunkten Malerei, Skulptur und Objektkunst, Grafik und Kunst in der Architektur, in denen er neben materiellen und technischen Informationen auch die Beteiligung von Handwerksbetrieben, Werkstätten oder Lieferfirmen ermittelte. Die Aussagen in den 138 eingegangenen Fragebögen weisen eine große Vielfalt in Form und Detailfülle auf und reichen von wenigen Wörtern hin zu Beschreibungen über mehrere Seiten.

Das Archivmaterial wurde 1979 in Buchform mit dem Titel Archiv für Techniken und Arbeitsmaterialien zeitgenössischer Künstler – Band 1 [3] veröffentlicht. Die handschriftlichen oder maschinengeschriebenen Aussagen wurden als Faksimile gedruckt und mit Abbildungen der Kunstwerke illustriert. Das Buch war, ebenso wie der 1996 erschienene Reprint, [4] innerhalb kurzer Zeit vergriffen. Ein Digitalisat des Reprints ist unter folgendem Link abrufbar: Archiv für Techniken und Arbeitsmaterialien zeitgenössischer Künstler – Band 1, Reprint 1996

Diese ersten Fragebögen spiegeln das zentrale Anliegen des aufstrebenden Fachbereichs der Restaurierung moderner und zeitgenössischer Kunst wider, mehr über die Materialien und Techniken zu erfahren, um den immer komplexer werdenden Fragen der Erhaltung aktueller Kunst zu begegnen. Über greifbare Informationen hinaus bieten die Fragebögen Gantzert-Castrillos erstaunliche Eindrücke über die sehr unterschiedlichen Herangehensweisen der Künstler:innen an materielle und technische Fragen und deren jeweilige Bereitschaft diese Informationen zu teilen.

Die Weiterentwicklung des Archivs

Seit den 70er Jahren wurden verschiedene neue Herangehensweisen und Methoden zum Erhalt zeitgenössischer Kunst entwickelt und erprobt. Auch das kontinuierlich erweiterte Archiv [5] war Teil dieser Entwicklung und Erich Gantzert-Castrillo nutzte nun das Künstler:inneninterview, um detaillierte und authentische Aussagen zu sammeln:

Die Fragebögen hatten was Unpersönliches. Das hat mir selber eigentlich nicht immer so behagt. Was mir gefiel, war immer der Kontakt. Der Kontakt zum Produzenten, zum Künstler.“ [6]

Die systematische Zusammenstellung relevanter Informationen, die in den 70er-Jahren mit Fragebögen begann, erfolgte nun hauptsächlich auf der Grundlage ausführlich dokumentierter Interviews. Das Ziel der Befragungen wurde erweitert, um die Arbeit der Künstler:innen zu charakterisieren - insbesondere in Bezug auf die Intentionen, die mit bestimmten Materialien und Techniken ausgedrückt oder in diese übertragen werden. Sowohl die Meinung der Kunstschaffenden zu Präsentationskonzepten, Alterungs- und Schadensphänomenen, als auch deren Sichtweise zu Konservierungsmaßnahmen wurden in den Interviews thematisiert.
Der Ansatz mit Kunstschaffenden ins Gespräch zu kommen ist seitdem zu einer unverzichtbaren Voraussetzung geworden, nicht nur für die Dokumentation von Materialien, Techniken und Alterungsphänomenen, sondern insbesondere für die Entwicklung von Erhaltungsstrategien bei komplexen Kunstwerken.

Auf den Konferenzen Modern Art: Who Cares? und Motality Immortality? The Legacy of 20th Century Art Ende der Neunzigerjahre wurde die Neuerungen in der Konservierung und Restaurierung von zeitgenössischer Kunst besonders deutlich. Gantzert-Castrillo präsentierte dort das Archiv für Techniken und Arbeitsmaterialien zeitgenössischer Künstler. [7]
Das Ergebnis dieser Entwicklungen war schließlich der Aufbau internationaler Expert:innennetzwerke mit webbasierten Plattformen. Seitdem erfolgt die Archivierung und der Informationsaustausch hauptsächlich digital und webbasiert. Einige Projekte machten ihre Künstler:inneninterviews online als Video oder Transkript komplett zugänglich, so auch Erich Gantzert-Castrillo mit der Webplattform artemak.de.

Das Archiv im 21. Jahrhundert

Die Webbplattform artemak.de wurde als Fortführung des Archivs durch das Institut für Digitales Gedächtnis der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe ab 2005 entwickelt und im November 2011 veröffentlicht. Neben den Künstler:inneninterviews als Kerninhalt der Website war es möglich, umfassendes Bildmaterial wie Fotos oder Videos anzuzeigen und zu verknüpfen sowie Informationen zu kontextualisieren. Die artemak-Website enthielt 17 Interviews, etwa 400 Bilder, mehr als 500 Glossarbegriffe, die historischen Fragebögen des artemak-Buches und zwei Studienarbeiten. [8] Die Website musste 2014 aufgrund technischer Schwierigkeiten offline gehen.
Die Idee, artemak als Projekt an der Hochschule für Bildende Künste Dresden weiterzuführen, geht auf Gespräche zwischen Erich Gantzert-Castrillo und Ulrich Schießl, ehemaliger Rektor und Professor an der Hochschule für Bildende Künste Dresden, zurück. Im Jahr 2019 übergab Gantzert-Castrillo der Hochschule schließlich die artemak-Website sowie das physische Archiv als Schenkung mit dem Wunsch, dass eine Institution die Arbeiten langfristig sichert und die Idee von artemak fortführt. Den Auftakt dazu bildet seit 2018 das Forschungsprojekt artemak+X Techniken und Materialien der modernen und zeitgenössischen Kunst. Durch die Finanzierung des Europäischen Sozialfonds (ESF) und des Freistaat Sachsen war es möglich, die artemak-Website neu zu entwickeln und an den aktuellen Anforderungen an eine digitale Wissensplattform anzupassen. Die Website wurde 2021 veröffentlicht und wird seitdem von der Hochschule für Bildende Künste Dresden betrieben.

Weiterführende Informationen zur Projektgeschichte

Interview mit Erich Gantzert-Castrillo (21.10.2019)

Projektbeschreibung artemak verfasst von Erich Gantzert-Castrillo und Elisabeth Bushart (2011)

Anmerkungen:

[1] Auszug aus einer Projektbeschreibung von Erich Gantzert-Castrillo und Elisabeth Bushart, 2011 veröffentlicht auf www.artemak.de.
[2] Gantzert-Castrillo kontaktierte zunächst Kunstschaffende, deren Kunst in der Sammlung des Wiesbadener Museums präsentiert wurden. Später folgten weitere Künstler:innen, die in öffentlichen und privaten Sammlungen in Deutschland vertreten waren. Siehe hierzu: Gantzert-Castrillo, Erich. 1996. Archiv für Techniken und Arbeitsmaterialien zeitgenössischer Künstler – Band 1. Reprint of the edition published in 1979. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag: 11.
[3] Gantzert-Castrillo, Erich. 1979. Archiv für Techniken und Arbeitsmaterialien zeitgenössischer Künstler – Band 1. Wiesbaden: Harlekin Art/Museum Wiesbaden.
[4] Gantzert-Castrillo, Erich. 1996. Archiv für Techniken und Arbeitsmaterialien zeitgenössischer Künstler – Band 1. Überarbeitetes Reprint. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag.
[5] Zu dieser Zeit war Gantzert-Castrillo zunächst Restaurator am Museum für Moderne Kunst Frankfurt, anschließend an der Pinakothek der Moderne (Bayerische Staatsgemäldesammlungen München). Elisabeth Bushart, Restauratorin an der Sammlung Brandhorst (Bayerische Staatsgemäldesammlungen München), wirkte bei der Fortführung des Archivs mit.
[6] Interview mit Erich Gantzert-Castrillo, geführt von Jonathan Debik und Sarah Giering, 21 Oktober 2019, Hochschule für Bildende Künste Dresden.
[7] Gantzert-Castrillo, Erich. 1999. “The Frankfurt Museum für Moderne Kunst and a Private Archive: Registration Systems for Contemporary Art”. In Modern Art: Who Cares?, ed. Hummelen, Ijsbrand and Sillé, Dionne. Amsterdam: Foundation for the Conservation of Modern Art/Netherlands Institute for Cultural Heritage/Archetype: 284-289.
Gantzert-Castrillo, Erich. 1999. “The Archive of Techniques and Working Materials used by Contemporary Artists”. In Mortality Immortality? The Legacy of 20th-Century Art, ed.Corzo, Miguel Angel. Los Angeles: The Getty Conservation Institute: 127-130.
[8] Diese Seminararbeiten wurden an der Hochschule für Bildende Künste Dresden abgelegt und unter anderem von Erich Gantzert-Castrillo betreut, der dort eine Honorarprofessur für die Erhaltung der zeitgenössischen Kunst innehat.

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